Im Interview mit dem Handelsblatt spricht Annalena Baerbock über neue Allianzen mit der Wirtschaft, Klima- und Sozialzölle sowie die Notwendigkeit, die Euro-Zone zu reformieren. Auf die großen Herausforderungen unserer Zeit möchte sie Antworten für und mit der Breite der Gesellschaft finden.
Erstveröffentlichung auf handelsblatt.com am 12.04.2018.
Handelsblatt: Frau Baerbock, im Impulspapier für das neue Grundsatzprogramm spricht sich der Parteivorstand der Grünen für „Klima- und Sozialzölle“ aus. US-Präsident Donald Trump begründet seine protektionistischen Pläne auch mit dem Schutz der heimischen Arbeiter. Sind Sie ein grüner Trump?
Annalena Baerbock: Mit Trump hat mich noch niemand verglichen. Ich glaube, die einzig annähernde Schnittmenge wäre, dass ich als Schülerin ein Jahr in Florida gelebt habe. Aber im Ernst: Wir werfen in dem Papier zunächst einmal Fragen auf. Wie sollen wir in Zukunft leben und wirtschaften? Wie schaffen wir ein Welthandelssystem, in dem Sozial- und Umweltstandards nicht unter die Räder kommen?
Handelsblatt: Und da könnten neue Klimazölle helfen?
Annalena Baerbock: Wenn sich der amerikanische Präsident vom Pariser Klimaschutzabkommen verabschiedet oder Russland es gar nicht ratifiziert, dann muss man schon mal darüber nachdenken, ob solch ökologisches Dumping durch Klimazölle auf importierte energieintensive Produkte abgefedert werden muss. Auch um zu verhindern, dass Unternehmen, die in Europa auf Umwelt- und Sozialstandards setzen, nicht das Nachsehen haben oder abwandern.
Handelsblatt: Dass sich Grüne um die Wirtschaft sorgen, kommt nicht häufig vor.
Annalena Baerbock: Also ich war die letzten vier Jahre im Wirtschafts- und Energieausschuss das Bundestages. Und ich muss sagen, ich war regelrecht schockiert, dass ausgerechnet wir Grünen immer wieder daran erinnern mussten, dass Wirtschaftspolitik mehr ist als Verbändevertreter einzuladen, um sich gegenseitig auf die Schulter zu klopfen. Die zentrale wirtschaftspolitische Aufgabe des Staates, klare Regeln zu definieren, damit unsere soziale Marktwirtschaft in einer globalisierten und digitalen Welt funktioniert, scheinen Union und SPD vergessen zu haben.
Handelsblatt: Das neue Grundsatzprogramm soll bis Anfang 2020 fertig sein. Sie bezeichnen das als vierte Phase in der Entwicklung der Partei. Was kann man sich unter den Grünen 4.0 vorstellen?
Annalena Baerbock: Probleme und Herausforderungen radikal zu thematisieren und an der Wurzel zu packen wie zu unserer Gründungszeit. Und zugleich Antworten für und mit der Breite der Gesellschaft finden, denn nur so können wir wirklich verändern. Die Politik läuft ja gerade atemlos den gesellschaftlichen Prozessen, wie der Digitalisierung, hinterher. Deshalb müssen wir wieder stärker vorausdenken. Wie soll die Arbeit in einer digitalisierten Welt aussehen? Wie machen wir unsere sozialen Sicherungssysteme, so fit, dass keiner durchs Netz fällt und dass Kinder in unserem Land nicht in Armut leben? Und wir müssen darüber diskutieren, wie wir die Klimakrise endlich in den Griff bekommen.
Handelsblatt: Und hier sehen Sie die Wirtschaft als Bündnispartner?
Annalena Baerbock: Die Wirtschaft ist ja längst kein homogener Block mehr. Es gibt viele Unternehmen, die wissen, welch krasse wirtschaftlichen Folgen die ungebremste Klimakrise auch bei uns hätte und im Klimaschutz Chancen sehen. Durch klimabedingte Extremwetterereignisse brechen ja schon heute immer mal wieder globale Lieferketten zusammen. Mit diesen Unternehmen müssen wir viel stärker Allianzen schmieden.
Handelsblatt: Und was ist mit den Firmen, die die Energiewende kritisch sehen?
Annalena Baerbock: Mit denen, die den Transformationsprozess noch nicht angehen wollen, müssen wir ohne Schaum vor dem Mund ringen und streiten. Zudem gibt es eine breite gesellschaftliche Mehrheit für die Energiewende und eine ganz starke Zivilgesellschaft, engagierte Leute – etwa im Hambacher Wald, der dem Braunkohleabbau weichen soll, obwohl wir uns doch eigentlich von der Kohle verabschieden müssen.
Handelsblatt: Aber wenn Sie nicht alle überzeugen können, setzen Sie auf Verbote?
Annalena Baerbock: Es geht darum herauszufinden, was an neuen Entwicklungen auf uns zukommt, und wo die Politik Leitplanken setzen muss. Gesetze schaffen Spielregeln, an die sich alle halten müssen. Das heißt teilweise Einschränkungen, aber oft genug auch Unterstützung. Vor allem aber machen sie das Spiel fair für alle.
Handelsblatt: Häufig geht es aber auch um höhere Kosten. Vielen Unternehmen dürfte Ihre Ankündigung einer „neuen ökologischen Steuerreform“ eher Sorge bereiten.
Annalena Baerbock: Bisher werden Umweltschäden nicht wirklich in die Produktionsprozesse eingepreist. Das muss sich dringend ändern. Nehmen Sie Plastik, das die Meere verschmutzt: Das ist nur deshalb so günstig, weil Erdöl für die Herstellung von Kunststoffen energiesteuerbefreit ist. Ich will, dass ein Wettbewerb um die ökologischste Produktionsweise in Gang kommt – und zwar nicht nur im Stromsektor, sondern auch in den Bereichen Wärme und Verkehr und ja auch in Industrieprozessen. Dazu braucht der Ausstoß des klimaschädlichen CO2 endlich einen vernünftigen Preis. Im Gegenzug müssen wir auch entlasten: Die Stromsteuer kann weg. Wir wollen ja nicht Strom besteuern, sondern umweltschädliche Produktion.
Handelsblatt: Und damit wollen Sie Mitstreiter finden? Schon die Debatte um Abschaffung der Dieselsubventionen zeigt doch, wie verfestigt die Positionen in der Klimadebatte sind.
Annalena Baerbock: Viele Unternehmen fordern doch selbst einen CO2-Preis. Störrisch ist nur die Große Koalition. Die hat zwar angekündigt, zusammen mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron eine CO2-Bepreisung angehen zu wollen. Im Koalitionsvertrag nun die Relativierung.
Handelsblatt: SPD und Union wollen das Thema auf G20-Ebene angehen.
Annalena Baerbock: Das hieße ja, die Präsidenten Trump und Putin mit an Bord nehmen zu wollen. So ist das Ding tot, bevor es überhaupt begonnen hat.
Handelsblatt: Sie wollen die Unternehmenssteuern auch mit Blick auf die Digitalisierung reformieren. Was planen Sie?
Annalena Baerbock: Unsere Steuerregeln sind im Digitalzeitalter nicht angekommen. Während jeder kleine Buchladen Mehrwertsteuer zahlen muss, nutzen die Digitalkonzerne wie Amazon oder Google die europäischen Regeln aus den analogen 90ern so geschickt aus, dass sie wie auf einem Karussell die Mehrwertsteuer von einem Land ins andere übertragen, aber nie wirklich zahlen. Dadurch erleiden wir in Europa jährliche Steuerausfälle von 50 Milliarden Euro.
Handelsblatt: Bei der Steuerpolitik braucht es in der EU Einstimmigkeit. Das macht jede Änderung schwierig.
Annalena Baerbock: Das ist ein Problem. Aber die Bundesregierung macht es sich zu einfach, wenn sie deshalb die Hände in den Schoß legt. Es gibt ja auch das Prinzip der verstärkten Zusammenarbeit, bei dem sich einige Länder zusammentun können. Über diesen Weg könnte auch endlich die Finanztransaktionssteuer angegangen werden. Und der französische Präsident Macron hat Deutschland eine Kooperation vorgeschlagen, um bei der Unternehmensbesteuerung eine gemeinsame Bemessungsgrundlage einzuführen.
Handelsblatt: Die Finanztransaktionssteuer und die gemeinsame Bemessungsgrundlage werden nun schon seit Jahren angekündigt, aber es passiert wenig. Warum sollte sich das jetzt ändern?
Annalena Baerbock: Union und SPD wollten das offensichtlich in der Vergangenheit nicht so sehr, wie sie gerne behaupten. Die Bundesregierung muss das also einfach mal anpacken. Wenn sie das Problem der Steuervermeidung nicht endlich ernsthaft angeht, zerstört sie weiter massiv das Vertrauen in die Europäische Union. Die Menschen empfinden es als unfair, wenn sie brav ihre Steuern zahlen, aber sich die großen Konzerne vom Acker machen.
Handelsblatt: Bis zum Sommer soll es eine Einigung geben, wie die Eurozone reformiert und krisenfest gemacht werden kann. Glauben Sie, dass der neue Bundesfinanzminister Olaf Scholz zu mehr Kompromissen in Brüssel bereit ist oder wird er die Politik von Wolfgang Schäuble fortführen?
Annalena Baerbock: Was heißt Kompromisse. Es ist doch in unser aller Sinne, die Eurozone vor neuen Finanz- und Wirtschaftsschocks zu bewahren. Es hatte mich daher echt gefreut, dass im Koalitionsvertrag die Erkenntnis steckt, dass es in Europa dringend vorangehen muss. Das waren klare Ansagen. Doch seit Martin Schulz weg ist, hat man das Gefühl, dass das Europa-Kapitel des Koalitionsvertrages wieder ungelesen zugeklappt wurde. Das ist fatal und zukunftsvergessen.
Handelsblatt: Was muss aus Ihrer Sicht geschehen?
Annalena Baerbock: Wir müssen jetzt Vorsorge treffen für die nächste Krise, indem wir beispielsweise die Bankenunion vollenden, den Europäischen Stabilitätsmechanismus zu einem europäischen Währungsfonds weiterentwickeln und auch ein Instrument zur Abfederung von asymmetrischen Schocks schaffen.
Handelsblatt: In Ungarn wurde gerade Viktor Orban, der im Wahlkampf sehr EU-kritische Töne angeschlagen hat, mit überwältigender Mehrheit wiedergewählt. Offenbar trifft das einen Nerv.
Annalena Baerbock: Dass jemand mitten in der EU nicht nur eine „illiberale Demokratie“ predigt, sondern sie Schritt für Schritt durchsetzt, Opposition, Medien und NGOs drangsaliert, darf die EU nicht dulden. Und dass der deutsche Innenminister Seehofer Viktor Orban dafür auch noch hofiert, ist eines Innenministers nicht würdig. Wir dürfen Europa nicht den Rechtspopulisten überlassen oder ihnen hinterherrennen.
Handelsblatt: Aber mit den von ihnen geforderten Reformen wie der Schaffung einer EU-Einlagensicherung werden Sie die Euro-skeptischen Kräfte in Nordeuropa eher stärken.
Annalena Baerbock: Das sehe ich nicht so. Die große Mehrheit der Bürger in allen EU-Ländern will Europa als Friedensprojekt erhalten. Wir dürfen uns von einer kleinen, aber lauten Minderheit nicht kirre machen lassen. Bei der Bankenunion geht es darum, Vorsorge für mögliche neue Krisen zu treffen. Das ist vernünftig. Das Fatale ist doch eher, wenn die Menschen den Eindruck bekommen, dass die Politik immer nur mit dem Feuerwehrschlauch hinterherrennt. Besser sind gute Brandschutzvorschriften.
Handelsblatt: Noch ist die Eurozone mit den Aufräumarbeiten der letzten Krise beschäftigt. Griechenland soll im Sommer endlich das Rettungsprogramm beenden. Sollten die anderen Euro-Staaten dem Land dann Schuldenerleichterungen gewähren?
Annalena Baerbock: Alle müssen sich an die Vereinbarungen halten. Die Bundesregierung hat immer wieder darauf gedrungen, dass Athen die Sparvorgaben, mit zum Teil heftigsten sozialen Konsequenzen, erfüllt. Nun müssen wir auch zu unseren Zusagen stehen und die versprochenen Schuldenerleichterungen gewähren, damit Griechenland im Sommer diesen Jahres wieder auf eigenen Beinen stehen kann.
Handelsblatt: Den deutschen Steuerzahlern wurde allerdings auch versprochen, dass Griechenland die Hilfskredite mit Zinsen pünktlich zurückzahlt. Das gilt dann nicht mehr?
Annalena Baerbock: Es wird ja zurückgezahlt, nur später. Im Bundeshaushalt wird durch die kein Cent fehlen. Im Gegenteil: Deutschland hat durch den Ankauf von Anleihen, die man dann jedoch mit einem höheren Zinssatz an Griechenland weiter gegeben hat, 2015 und 2016 Zinsgewinne in Höhe von 722 Millionen Euro gemacht.
Handelsblatt: Frau Baerbock, vielen Dank für das Interview.
Die Fragen stellten Jan Hildebrand und Silke Kersting.
Quelle: www.gruene.de
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